Mechanische Belastung reduzieren
Das Merkmal „Anteil intakter Muskelfaserstruktur“ sollte im Lebensmittelbuch verankert werden
[Artikel erschienen in FLEISCHWIRTSCHAFT 4/2014, S. 28-20. Autoren: Tanja Grünewald und Goetz Hildebrandt]
Die ALTS-Unterarbeitsgruppe „Lebensmittel-Histologie“ hat mit dem Anteil intakter Skelettmuskelfasern ein weiteres Merkmal zur Qualitätsbeurteilung von Kochschinken und sonstiger Stückware aus gewachsenem Fleisch entwickelt.
Ziffer 2.19 der Leitsätze für Fleisch und Fleischerzeugnisse des Deutschen Lebensmittelbuchs behandelt die Herstellung und Beschaffenheit von Formfleischerzeugnissen. Danach wird der Prozess des Tumbelns und Polterns so gestaltet, dass der Gewebeverband im Wesentlichen erhalten bleibt, die Struktur aufgelockert wird, Muskeleiweiß an der Oberfläche freigesetzt wird und sich die Zusammensetzung nicht ändert. Hieraus lässt sich im Umkehrschluss eine Begrenzung der mechanischen Belastung insoweit ableiten, als der Gewebeverband – wie auch immer er definiert sein mag – intakt bleiben muss, die Struktur über ein Auflockern hinaus nicht zerstört werden darf und Muskelabrieb nicht im Inneren entsteht. Nach der „Erstrecht- Regel“ gelten diese Vorgaben auch für das vielfach übliche Tumbeln von Erzeugnissen aus gewachsenem Fleisch, die als Vorbild der zusammengefügten Formfleischerzeugnisse dienen. Als analytisches Kriterium zur Charakterisierung der mechanischen Belastung wurde in den Leitsätzen „der bei der Herstellung auftretende Muskelabrieb (aus freigesetztem Muskeleiweiß entstehende brätähnliche Substanz)“ etabliert, der sich unter dem Mikroskop gemäß einer späteren Definition als wabigschaumig vernetztes Sarcoplasma mit mindestens 3 Vakuolen auf einer Stelle manifestiert. Der Anteil dieser Strukturen darf den Wert von 5 Vol.-% (bei Geflügelfleischerzeugnissen 10 Vol.-%) im verzehrsfertigen, zusammengefügten Fleischanteil von Formfleischerzeugnissen nicht überschreiten. Bei der Herstellung solcher Produkte wird weiterhin kein gewolftes, gekuttertes oder in ähnlicher Weise zerkleinertes Fleisch verwendet, mithin kein Material, das morphologisch dem Abrieb ähnelt.
Abb. 1: In einigen Betrieben wird der im Transportwagen verbliebene Abrieb bereits getumbelten Rohmaterials gesammelt und vor dem Abfüllen wieder zugegeben – problematisch in Sachen ’brätartige Substanz’.
Zwei Merkmale für Kochschinken
Die Höchstwerte für den Abrieb gestatten die Abgrenzung eines Formfleischproduktes „nach unten“, das heißt gegenüber seinem Aliud, wie z.B. Formfleischkochschinken vs. Pizzabelag oder Formfleisch-Putenbrust vs. Kochpökelerzeugnis aus z.T. feinzerkleinertem Putenfleisch. Eine entsprechende „Abgrenzung nach oben“, das heißt gegenüber dem Vorbild des zusammengefügten Formfleisches, fehlt dagegen in LS-Ziffer 2.19. Allerdings haben in Hinblick auf den Kochschinken je eine Arbeitsgruppe der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG-Arbeitskreis „Verkehrsauffassung Kochschinken“) und des Arbeitskreises der auf dem Gebiet der Lebensmittelhygiene und der Lebensmittel tierischer Herkunft tätigen Sachverständigen (ALTS) – wiederum unter Anwendung der „Erst-recht-Regel“ – als Höchstwert für Abrieb bei (Nicht-Formfleisch-)Kochschinken 3 Vol.-% vorgeschlagen. Damit existieren für Kochschinken sogar zwei Merkmale, die zur Unterscheidung des Formfleisches vom ursprünglichen Produkt herangezogen werden, nämlich der genannte maximale Abrieb von 3 Vol.-% sowie das „isoliert verkehrsfähig“- Prinzip für die Mindest- Stückgröße gemäß LS-Ziffer 2.341.6, , was nach gegenwärtigem Diskussionsstand mindestens 80% Teilstücke mit einem Gewicht über 250 g im Rohling bedeutet. Im Gegensatz dazu gibt es – wie noch einmal betont sein soll – bei allen anderen Stückwaren aus gewachsenem Fleisch bisher kein konkretes Analysenmerkmal zur Identifizierung zusammengefügter Ware. Betroffen sind rohe und gegarte Stückware von Schwein (außer Kochschinken), Rind und Geflügel.
Abb. 2: Aufgelockerte Struktur jedoch überwiegend intakte Muskelfasern (Kochschinken, Calleja-Färbung, 20fache Vergrößerung).
Weiterentwicklung der Herstellungstechnologie
Nach Verabschiedung der Leitsatzbestimmungen über Formfleisch einerseits und Formfleisch- Kochschinken andererseits hat eine stetige Weiterentwicklung der Herstellungstechnologie stattgefunden. Dazu zählt neben dem Einsatz vernetzender Enzyme und Substrate insbesondere die Einführung von Vakuum-Tumblern. Es kann daher nicht verwundern, wenn neuere Markterhebungen einen markanten Wandel der Feinstruktur von Stückware (Kochschinken, Rohschinken, gegarte Geflügelbrust) erkennen lassen. Vielfach wird der oberflächliche, brätähnliche Abrieb reduziert, doch treten dafür vermehrt andere Zerstörungsformen wie körniger Zerfall und homogenes oder feinstschaumiges Konfluieren auf. Intakte Muskelfasern, das heißt deutlich abgrenzbare Fasern mit erhaltenem Sarcolemm, machen gelegentlich weniger als die Hälfte der Gesamtstruktur aus. Solche histologischen Bilder waren noch vor 20 Jahren unbekannt. Demnach charakterisieren auf zellulärer Ebene die wabig vernetzten Eiweißmassen mit ? 3 Vakuolen auf einer Stelle nur noch selten das Ausmaß der mechanisch bedingten Veränderungen, weshalb sich die Notwendigkeit ergibt, das Merkmal „histometrisch erfassbarer Abrieb“ fortzuentwickeln bzw. durch ein weiteres Kriterium zu ergänzen. Im Einklang mit Sinn und Zweck der LS-Ziffer 2.19 ist diese Aufgabe mit dem Positiv-Merkmal „intakte Muskelfaserstruktur Vol.-%“ erfüllt. Negativ ausgedrückt wäre der Parameter als „Gesamtmuskulatur minus körnig zerfallendem, homogen konfluierendem, feinstschaumigem und brätartigem Muskelgewebe“ zu definieren. Ein solches Merkmal ist auch nicht ungewöhnlich oder gar willkürlich, denn die Beschreibung/ Bewertung von Fleischzubereitungen, Separatorenfleisch sowie Hackfleisch und seinen Zubereitungen berücksichtigt ebenfalls die (innere) Muskelfaserstruktur. Warum sollte dann der originäre Gewebeaufbau gerade bei einem „Fleisch wie gewachsen“ ohne Bedeutung sein? Seit 2009 hat sich die ALTS-Unterarbeitsgruppe „Lebensmittel- Histologie“ um eine Validierung des Merkmals „intakte Muskelfaserstruktur“ und seine histometrische Ermittlung bemüht. Die ersten Erfahrungen aus vier Laborvergleichsuntersuchungen an Kochschinken zeigten, dass der Parameter zunächst mit Hilfe entsprechender Fotos konkretisiert werden musste. Inzwischen liegt ein reich bebilderter Bewertungskatalog vor. Nach erfolgter Standardisierung konnte in der abschließenden Vergleichsuntersuchung die Präzision der quantitativen Bestimmung der Muskelfaserzerstörung mittels Point-count-Verfahren als ausreichend für den Einsatz in der Qualitätskontrolle beurteilt werden. Grundsätzlich muss bei Kochschinken und sonstiger gegarter Stückware vom Schwein einschließlich der Formfleischerzeugnisse mindestens ein überwiegender Anteil intakter Muskelfaserstruktur vorhanden sein. Mit dieser Strategie steht der praktischen Anwendung des Kriteriums in der amtlichen Überwachung der genannten Produkte nichts mehr im Wege.
Abb. 3: Histologisches Bild eines mechanisch stark beanspruchten Kochschinkens (Calleja-Färbung, 20fache Vergrößerung).
Abb. 4: Histologisches Detailbild (Ausschnitt aus der benachbarten Abbildung links, Calleja-Färbung, 100fache Vergrößerung).
Sortenspezifische Grenzwerte ableiten
Die bisherigen Vorschläge können nur ein Zwischenergebnis sein, denn vor dem ALTS-Unterausschuss liegen noch weitere Aufgaben. Zunächst gilt es, sortenspezifische Grenzwerte für den Anteil intakter Muskelfaserstruktur bei Kochschinken und sonstiger gegarter Stückware vom Schwein abzuleiten. Zweckdienliche Marktanalysen werden in nächster Zeit durchgeführt. Darüber hinaus ist die Frage zu klären, inwieweit der Anteil intakter Skelettmuskulatur auch für gegarte Stückware vom Geflügel die Intensität der Belastung beim Zusammenfügen widerspiegelt. Im Gegensatz zu Rotfleisch führt die geringe mechanische, thermische und physiko-chemische Resistenz des Weißfleisches zu einem multifaktoriell bedingten Zerstörungsprozess. Die Auswirkungen der einzelnen Einflussgrößen, z.B. Gefrieren, Auftauen oder Erhitzen sowie Rasse, Alter und Geschlecht des Geflügels, lassen sich kaum voneinander trennen und nur schwer gegenüber den Effekten der Formfleischtechnologie (Mengen, Poltern, Abfüllen etc.) abgrenzen. Andererseits klingt die Forderung legitim, wonach die Herstellung von Stückware aus Fleisch wie gewachsen auch beim Geflügel so gestaltet werden muss, dass der Anteil zerstörter Skelettmuskelfasern nicht überwiegt. Nach ersten Ergebnissen scheint diese Forderung realisierbar zu sein, ihre generelle Akzeptanz bedarf jedoch zusätzlicher Erhebungen. Weiterhin ergaben orientierende Analysen von Formfleisch-Rohschinken, dass auch hier mikroskopisch manifeste Zerstörungen vorkommen können, deren Relevanz für die Qualitätsbewertung es noch zu evaluieren gilt. Letztlich sollte das Merkmal „Anteil intakter Muskelfaserstruktur“ auch im Deutschen Lebensmittelbuch verankert werden. Zu diesem Zweck empfiehlt die ALTS-Unterarbeitsgruppe „Lebensmittel-Histologie“, bei der Definition von Formfleischerzeugnissen hinsichtlich der mechanischen Vorbehandlung in Ziffer 2.19/erster Satz die Formulierung „Auflockerung der Struktur“ in „Auflockerung der Struktur inkl. Muskelfaserstruktur“ zu erweitern. Damit wäre grundsätzlich vorgegeben, dass die mechanische Belastung der Feinstruktur bei der Herstellung einer Formfleisch- Stückware auf das technologisch notwendige Minimum reduziert werden muss und eine Zerstörung der Faserarchitektur zu vermeiden ist. Nach der „Erstrecht- Regel“ gilt diese Forderung dann auch für den Tumbelprozess bei den als Vorbild dienenden Kochschinken, Braten, Rohschinken und andere Stückwaren aus gewachsenem Fleisch.