Evaluation des bundesweiten Neugeborenen-Hörscreenings
Abstract
Das Neugeborenen-Hörscreening (NHS) wurde 2009 bundesweit eingeführt. Im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) wurde unter Federführung des LGL die Qualität des NHS in Deutschland in zwei Evaluationen für die Jahre 2011/2012 und 2017/2018 untersucht. Der Endbericht der zweiten Evaluation wurde im September 2022 fertiggestellt. Alle geburtshilflichen und neonatologischen Abteilungen in Deutschland müssen als Leistungserbringer des NHS Sammelstatistiken zu den Screeningparametern des NHS erstellen. In 13 Bundesländern sind insgesamt 15 Hörscreening-Zentralen (HSZ) in den Screeningprozess eingebunden, die die Dokumentation der Screeningparameter für die Abteilungen übernehmen und in der Regel die Eltern auch an notwendige Kontrolluntersuchungen und fehlende Hörscreenings erinnern (sogenanntes Tracking). In der Evaluation 2017/2018 wurde bundesweit für mehr Neugeborenen ein NHS dokumentiert als in der ersten Evaluation (86,1 % statt 82,4 %), wobei es nach wie vor große Unterschiede zwischen den Bundesländern gab. Auch arbeiteten mehr Kliniken mit einer HSZ zusammen. Im Gegensatz dazu hatte sich die Qualität des Hörscreenings bundesweit nicht verändert oder war eher schlechter geworden, was sich insbesondere in einem Anstieg der Refer-Rate (Kinder, die mit einem auffälligen Befund entlassen werden) von 5,3 % auf 6,0 % zeigte. Insgesamt ist das bundesweite NHS durch die deutliche Vorverlegung des Diagnose- und Therapiezeitpunkts einer Hörstörung ein toller Erfolg.
Hintergrund
In Deutschland sind etwa ein bis zwei von 1.000 Neugeborenen von einer behandlungsbedürftigen beidseitigen Hörstörung betroffen. Für eine altersgerechte lautsprachliche Entwicklung dieser Kinder ist die frühzeitige Diagnose und Therapie der Hörstörung entscheidend. Vor diesem Hintergrund hat der Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) 2009 bundesweit ein (NHS) in die Regelversorgung aufgenommen. In der Kinder-Richtlinie des G-BA sind neben der Durchführung des NHS auch Qualitätsziele festgelegt. Dazu gehören z.B. eine Screeningrate von mehr als 95 % der Neugeborenen, eine Refer-Rate (Kinder, die mit einem auffälligen Befund entlassen werden) unter 4 % sowie die Diagnosestellung bis zum 3. und die Therapieeinleitung bis zum 6. Lebensmonat.
Alle Leistungserbringer des NHS (insbesondere Geburts- und Kinderkliniken) müssen sogenannte Sammelstatistiken zu den Qualitätskriterien des Screeningprozesses erstellen. In einigen Bundesländern sind Hörscreening-Zentralen in das NHS eingebunden. Diese übernehmen für die angebundenen Kliniken die Sammelstatistiken und weitere Aufgaben der Qualitätssicherung des NHS. Sie stellen außerdem in Abhängigkeit vom jeweiligen Konzept die Vollständigkeit des Hörscreenings sicher und erinnern die Eltern an notwendige Kontrolluntersuchungen nach einem auffälligen NHS (Tracking). In elf Bundesländern – so auch in Bayern – kooperieren nahezu alle Krankenhäuser mit einer Hörscreening-Zentrale, in zwei Bundesländern nur ein Teil der Kliniken und in drei Bundesländern gibt es keine Zentrale.
Um die Qualität der deutschlandweiten Umsetzung des NHS zu untersuchen, hatte der G-BA 2014 eine Bietergemeinschaft unter Federführung des LGL mit einer bundesweiten Evaluation des NHS für die Jahre 2011 und 2012 beauftragt. Diese erste Evaluation hatte gezeigt, dass das Hörscreening insgesamt gut umgesetzt wurde, aber einige Qualitätsanforderungen noch nicht erreicht waren. Ende 2019 wurde daher vom G-BA eine Folge-Evaluation der Jahre 2017/18, wieder unter Federführung des LGL, in Auftrag gegeben. Im Rahmen der Folge-Evaluation sollte insbesondere geprüft werden, ob sich die Umsetzung des NHS im Laufe der Jahre in Deutschland verbessert hat.
Methodik
Für die Folge-Evaluation wurden Sammelstatistiken für insgesamt 1.047 geburtshilfliche und neonatologische Abteilungen von den Leistungserbringern bzw. Hörscreening-Zentralen angefordert. Seit der Erstevaluation waren zahlreiche geburtshilfliche Abteilungen geschlossen worden. In einem Fragebogen wurden die Klinikabteilungen zum Screeningprozess und die Hörscreening-Zentralen zu Aufgaben, Organisation und Finanzierung befragt. Neben diesen Daten flossen Routinedaten, wie z.B. Daten der Bevölkerungsstatistik, außerklinischen Geburten und ambulanten Screeninguntersuchungen in die Evaluation ein. Zusätzlich wurden in zehn geburtshilflichen und neonatologischen Abteilungen qualitative Interviews geführt.
Ergebnisse
Insgesamt ist die Umsetzung des NHS in Deutschland erfolgreich. Bundesweit wurde für 86,1 % der Neugeborenen ein Hörscreening dokumentiert. Dies bedeutet eine leichte Verbesserung gegenüber der 2012 dokumentierten Screeningrate von 82,4 %. Bezogen auf die in einem Bundesland geborenen Kinder unterschieden sich die Anzahl der dokumentierten Hörscreenings allerdings nach wie vor erheblich. Während im Jahr 2018 in Mecklenburg-Vorpommern für 98,2 % sowie in Bayern für 94,4% der Neugeborenen ein NHS dokumentiert wurde, ist in Baden-Württemberg bei 31,4 % und in Niedersachsen bei 30,3 % der Kinder nicht bekannt, ob ein Screening erfolgt ist. In beiden Bundesländern war im Evaluationszeitraum keine bzw. in Niedersachsen nur zwei kleine regionale Hörscreening-Zentralen in das NHS eingebunden. Dies zeigt deutlich, dass durch die Arbeit der Hörscreening-Zentralen die Vollständigkeit des NHS verbessert werden kann.
Ein entscheidender Faktor für die Qualität und Akzeptanz eines Screening-Programms ist eine niedrige Rate an auffälligen Befunden (Refer-Rate). Auffällige und insbesondere falsch auffällige Befunde führen zu einer Verunsicherung der Eltern und müssen diagnostisch weiter abgeklärt werden. Die Refer-Rate lag 2018 bundesweit bei 6,0 % und damit etwas höher als in der Erstevaluation mit 5,3 %. In Bayern lag die Refer-Ratebei bei 4,7 %. Wichtig für eine niedrige Refer-Rate ist neben der Qualität der Messungen durch ausreichendes und geschultes Personal auch die konsequente Durchführung eines zweistufigen Screenings, bei dem auffällige Ergebnisse eines ersten Hörtests noch vor Entlassung mit einem weiteren Hörtest in der Klinik kontrolliert werden, wie es nach der Kinder-Richtlinie vorgesehen ist.
Die Hörscreening-Zentralen erinnern in der Regel an notwendige Kontrollen bei Kindern mit auffälligem Hörscreening und dokumentieren die Ergebnisse der Untersuchungen. Insgesamt war deutschlandweit bei über der Hälfte der 29.279 Kinder mit auffälligem Hörscreening in den Hörscreening-Zentralen kein abschließender Befund der Kontrolluntersuchungen bekannt. Dieser Anteil der Kinder, bei denen unklar ist ob das auffällige Hörscreening abgeklärt wurde, variierte zwischen den Hörscreening-Zentralen sehr. Während er in Bayern 2018 nur 9,7 % betrug, lag der Anteil in anderen Bundesländern bei bis zu 100 %. Dies dürfte auf eine unterschiedliche Intensität und Dauer des Trackings in den verschiedenen Hörscreening-Zentralen sowie eine fehlende Übermittlung der Befunde durch die Nachuntersuchungsstellen zurückzuführen sein.
Eine wesentliche Aufgabe der Folge-Evaluation war der Vergleich zur Erst-Evaluation. Die Strukturqualität des Hörscreenings hat sich mit einer verbesserten Dokumentationsrate und vermehrter Anbindung der Kliniken an eine Hörscreening-Zentrale positiv entwickelt. Auch der Rücklauf der Fragebögen und Sammelstatistiken war bei der Folge-Evaluation deutlich besser, während sich die Qualität des Hörscreenings nicht verändert hat oder eher schlechter geworden ist. Dies zeigte sich insbesondere in einem Anstieg der Refer-Rate von 5,3 % auf 6,0 %.
Ausblick und Maßnahmen
Zur weiteren Optimierung des NHS in Deutschland wurden in beiden Abschlussberichten der Evaluationen Empfehlungen und Vorschläge gemacht. Dazu gehören die flächendeckende Einrichtung von Hörscreening-Zentralen sowie konkrete Vorschläge zur Prozessoptimierung und einer verbesserten Dokumentation. Auch wenn noch in einigen Bereichen Verbesserungsbedarf besteht, ist das bundesweite NHS durch die deutliche Vorverlegung des Diagnose- und Therapiezeitpunkts ein toller Erfolg. So lag schon 2012 der Median des Diagnosealters bei 4 Monaten, während die Diagnose ohne ein flächendeckendes Screening nach einer Umfrage 2004 erst durchschnittlich im Alter von 36 Monaten gestellt wurde.