Verwendung von Placebos, unspezifischen Therapien, komplementären und alternativen Verfahren in der Primärversorgung

Prof. Dr. med. Antonius Schneider, Institut für Allgemeinmedizin der Technischen Universität München (TUM), Klinikum rechts der Isar:

Neben Interventionen, die aus wissenschaftlicher Sicht oder zumindest aus Sicht der etablierten medizinischen Fachdisziplinen effektiv und angemessen sind, kommen in der Primärversorgung auch therapeutische Maßnahmen zum Einsatz, bei denen dies nicht der Fall ist bzw. kontrovers diskutiert wird. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang Placebos (Interventionen ohne aktive Wirkkomponente, z.B. die Gabe einer Kochsalzinjektion bei Schmerzen), unspezifische Therapien (aktive oder potenziell aktive Interventionen ohne erwartbaren Effekt auf die jeweilige Erkrankung, z.B. Vitamingabe bei allgemeiner Schwäche ohne Vitaminmangel) sowie komplementäre und alternativmedizinische Verfahren. Seit der Einrichtung des Institutes für Allgemeinmedizin an der Technischen Universität München werden dort (z.T. in Kooperation mit anderen nationalen und internationalen Wissenschaftlern) sowohl methodische als auch Versorgungsforschungsprojekte zu diesen Themenbereichen durchgeführt.
Zunächst in einer Befragung von bayerischen Allgemeinmedizinern und dann in einer größeren bundesweiten Befragung von Allgemeinmedizinern, Internisten und Orthopäden konnte gezeigt werden, dass viele Ärzte (und besonders viele Allgemeinmediziner) gelegentlich Placebos und deutlich häufiger unspezifische Therapien anwenden. Zwar wird die Auslösung von Placeboeffekten als wichtige Motivation angegeben, primär scheinen solche Interventionen jedoch verwendet zu werden, um Patientenerwartungen bzw. –wünsche zu berücksichtigen und schwierige bzw. unsichere Situationen zu überbrücken. In zukünftigen Studien soll untersucht werden, wie Ärzte, die solche Interventionen nicht anwenden, die entsprechenden Situationen meistern.
Im Rahmen der bundesweiten Arztbefragung wurde auch der Glaube an und die Verwendung von komplementären und alternativen Verfahren abgefragt. Insbesondere Orthopäden verwenden komplementärmedizinische Verfahren (und hierbei v.a. Chirotherapie, Osteopathie und Akupunktur) in großem Umfang. Das Institut für Allgemeinmedizin wirkt seit 2011 auch bei der Planung und Auswertung von regelmäßigen Bevölkerungsbefragungen zu diesem Thema im Rahmen des Gesundheitsmonitors der Bertelsmann-Stiftung mit. Diese Befragungen zeigen eine hohe Inanspruchnahme durch die Bevölkerung, für einige Verfahren aber auch Rückgänge in den letzten Jahren. Außerdem wurde eine systematische Übersichtsarbeit der bundesweiten Bevölkerungs- und Arztbefragungen erstellt.

Ausgewählte Publikationen

  • Linde K, Friedrichs C, Alscher A, Blank WA, Schneider A, Fässler M, Meissner K. Use of placebos and nonspecific and complementary treatments by German physicians – rationale and development of a questionnaire for a nationwide survey. Forsch Komplementärmed 2013;20:361-367.
  • Linde K, Buitkamp M, Schneider A, Joos S. Naturheilverfahren, komplementäre und alternative Therapien. In: Böcken J, Braun B, Repschläger U (Hrsg). Gesundheitsmonitor 2012 – Bürgerorientierung im Gesundheitswesen. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung, 2013, S 118-135.
  • Meissner K, Fässler M, Rücker G, Kleijnen J, Hróbjartsson A, Schneider A, Antes G, Linde K. Differential effectiveness of placebo treatments - a systematic review of migraine prophylaxis. JAMA Intern Med 2013;173:1941-1951.
  • Meissner K, Höfner L, Fässler M, Linde K. Widespread use of pure and impure placebo interventions by GPs in Germany. Fam Pract 2012;29:79-85.
    Fässler M, Meissner K, Schneider A, Linde K. Frequency and circumstances of placebo use in clinical practice - a systematic review of empirical studies. BMC Med 2010;8:15.

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